Tony Craggs erste Skulpturen entstanden zu Beginn der 1970er-Jahre und waren aus einer breiten Palette von Materialien geschaffen, die nicht in den Kanon der traditionellen Werkstoffe und Gegenstände der Kunst gehörten. Diese Fundstücke wurden in einfachen Arbeitsprozessen verarbeitet, sortiert, zermahlen und gestapelt, wobei der Körper des Künstlers oft als verarbeitendes Element, als Agens einbezogen war.
Cragg hatte in London studiert und interessierte sich zunächst für die Minimal und Konzept Kunst der Zeit. Die Gegenhaltung, die er aus dieser Auseinandersetzung entwickelte, führte ihn zur Herstellung geometrischer Grundformen, die er in Werkstoffen baute, welche eine exakte geometrische Form eigentlich nicht zulassen. Ihr Spektrum wurde nach dem Prinzip erweitert, dass für einen Bildhauer alle Materialien interessant sind und nichts unbedeutsam ist. Angesichts dieses unerschöpflichen Fundus wurde Cragg klar, dass – in Analogie zur Natur – auch die Formen industriell hergestellter Dinge auf Grundformen oder Geometrien beruhen. In der Natur allerdings sind solche Grundformen – die man mit Abstraktionen gleichsetzen kann – erheblich vielseitiger und komplexer als in industriellen Herstellungssystemen, die in der Regel ökonomisch ausgerichtet sind und daher simple Formen herstellen.Tony Cragg versteht Bildhauerei als das Aufleben von Formen, die, frei von utilitären Zwängen, aus Material entwickelt werden − in einem ständigen Prozess des Experimentierens und Entwickelns von Form und Inhalt. Er selbst hat sich wiederholt als »radikalen Materialisten« bezeichnet. Damit wird impliziert, dass alle wahrnehmbaren Erfahrungen letztlich Eigenschaften einer erhabenen Materialrealität sind, inklusive aller Emotionen, der Intelligenz und des Geistes, die als Phänomene des Materiellen verstanden werden. Ästhetik ist ein existentielles Bewertungssystem, das je nach Lebensumstand variabel ist und zu Bewertungen wie schön und hässlich, richtig und falsch, gut oder böse führt. Form und Inhalt können daher niemals als getrennte Aspekte betrachtet werden.Für Cragg ist Form immer das Resultat innerer Energien und Kräfte. In den beiden umfänglichen Werkgruppen der »Early Forms« oder »Frühformen« und der »Rational Beings«, den »Rationalen Wesen«, untersucht er auf unterschiedliche Weise die Beziehungen zwischen natürlicher und künstlicher Form, zwischen äußerer Erscheinungsform und inneren Strukturen sowie zwischen sichtbarer und nicht mehr wahrnehmbarer Materialrealität. So führt etwa ein Werk wie „Wild Relatives“, eines jener »rationalen Wesen«, deren menschliches Profil sich in eine Überlagerung zahlloser, jeweils leicht verschobener Schichten auflöst, die permanente Wandelbarkeit organischer Formen vor Augen, übersetzt in erstarrtes Material.
Der Bildhauer Tony Cragg handelt in der Überzeugung, dass alles, was wir im Kopf haben, unsere Wertvorstellungen, Ideen, Begriffe und die Sprache, unmittelbar aus unserer Materialumgebung resultiert und dass die Bildhauerei eine radikale Rolle innerhalb der Produktion eines erweiterten Formenvokabulars einnimmt.
Dr. Maria Müller-Schareck
Dr. Maria Müller-Schareck
Ausgewählte Werke
Über den Künstler
Der Bildhauer Tony Cragg wurde 1949 in Liverpool geboren und lebt seit 1977 in Wuppertal. Während seines Studiums am Gloucestershire College of Art and Design und dem Londoner Royal College of Art beginnt er sich insbesondere für die Plastik zu interessieren. In seiner früheren Schaffenszeit verwendet Cragg vor allem Fundstücke wie Baugeröll, Kunststoffteile, Müll und Haushaltsgegenstände. Daraus entstehen nicht nur dreidimensionale Arbeiten, sondern auch Mosaike aus flacheren Objekten und Materialfragmenten. Ab den 80ern beginnt der Künstler sich traditionelleren Techniken wie der Zeichnung, Bronze- und Holzplastik zuzuwenden. Zur gleichen Zeit lehrte er bereits an der Kunsthochschule Düsseldorf, folgte jedoch 2001 einem Ruf an die Universität der Künste in Berlin. 2006 kehrte er schließlich an die Kunstakademie Düsseldorf zurück, wo er von 2009 bis 2013 als Rektor wirkte. Seine Werke sind in vielen bedeutenden internationalen Sammlungen und im öffentlichen Raum vorzufinden. Er erhielt renommierte Auszeichnungen wie den Turner-Preis (1988) und nahm an der documenta VII und VIII sowie diversen bekannten Kunstbiennalen teil. Die Galerie Klüser vertritt den Künstler seit 1981. Neben der Organisation und Unterstützung vieler Museumsausstellungen ist die Galerie Herausgeber einer großen Anzahl von Editionen und Katalogen des Künstlers.