In NOW, Jorinde Voigts vierter Einzelausstellung in der Galerie Klüser, zeigt die Künstlerin drei neue Werkgruppen. Zu sehen sind die Serien Now, Hauro und Synchronicity. Jorinde Voigts aktuelle Werke sind kaum mehr als Zeichnungen zu betiteln, sondern allgemeiner gesprochen als Bild- und Vorstellungswelten. In ihren neusten Papierarbeiten stehen bildliche Elemente im Vordergrund, während skripturale Aspekte in den Hintergrund treten. Voigts typisches Raster aus Linien, Zahlen und Schrift schafft den Halt für auftauchende, überbordende, kaum zuzuordnende Gebilde aus Farben und Formen.
Ihr Darstellungsmodus bewegt sich zwischen grob und fein, abstrakt und gegenständlich, malerisch und plastisch. Die Fülle an Materialien scheint keine Grenzen zu kennen: Blattgold, Weißgold, Tinte, Tusche, Ölkreide, Pastell, Bleistift und schwarz gefärbte Federn. Voigt arbeitet seit Beginn ihres künstlerischen Schaffens mit den Prinzipien der Variation, Repetition und Transformation. Auch in der Serie Now, ausgestellt in den Räumen der Galerie Klüser, lassen sich frühre Parameter wiederentdecken und andere Elemente sind vollkommen neuartig, etwa der „Splash“: eine auf das Papier geworfene Tintenspur, die Voigt „Relief “ nennt. Diese hoch konzentrierte Farbexplosion wird von einem sanften Pastellkreis umrundet, den die Künstlerin mit „ Expectation“ kennzeichnet. Seit 2012 geht es in Voigts Werken insbesondere um eine Fragestellung: Wie sind innere Bilder beschaffen? Die menschliche Vorstellungskraft ist immer geprägt von zwei Polen: kollektive und archetypische Bilder, sowie individuelle Erfahrungen. In den gezeigten Arbeiten können wir eine Vielzahl an Bildvorstellungen entdecken und daraus unsere ganz eigenen Assoziationsketten formen, wie im Falle der Serie Hauro. Die Blätter sind gemeinsam mit den Federarbeiten in den Ausstellungsräumen der Galerie Klüser 2 zu sehen. Für die Hauro-Serie nahm Voigt den Charakter Hauros aus dem japanischen Anime-Film „Das wandelnde Schloss“ von Hayao Miyazaki aus dem Jahr 2004 zum Anlass, neue Bildwelten zu kreieren. Die fernöstliche Ästhetik ist wieder zu erkennen und auch einige Details des Filmes: Pastellfarbene Töne, geschichtete Lotusblumenblätter und wabernde Feuerbälle. Doch es sind nur Anspielungen, keine Abbildungen der Hauro Sage. Voigts abgeleitete Bilder nehmen organische und amorphe Züge an, die im Auge des Betrachters weiter leben. Die pechschwarzen Federarbeiten Synchronicity wirken wie schäumende Wellen, brodelndes Lava, schuppige Fischhaut oder schwere Lederüberzüge. Die Strukturen sind komprimiert, sie schlucken alles Licht. Mit dem Motiv des Fliegens beschäftigte sich Voigt bereits in ihren frühen Zeichnungen, etwa in Konstellation Algorithmus Adlerflug. Während sich Voigt 2007 mit möglichen Flugbahnen von Adlern in der Luft auseinander setzte, bezieht sie sich in dieser Werkgruppe auf die Geschichte der Kunst. Den schwarzen Flügelarbeiten gingen vergoldete Intarsien voran. In diesen Blättern untersuchte Voigt klassische Darstellungen von Engelsflügeln, wie sie in Pietro Cavallini’s römischen Fresken „Das jüngste Gericht“ von 1293 zu erkennen sind. Und auch die 2009 freigelegten Engelmosaiken in der Hagia Sophia dienten Voigt als Quelle. Anschließend filterte die Künstlerin die Struktur der Engelsflügel heraus und übertrug dieses Regelwerk in ihre ganz eigene Bildsprache. Entlang einer möglichen „Schulterlinie“ breiten sich unendliche, federnde Muster in alle Richtungen auf dem Papier aus. Bei der Betrachtung von Voigts Arbeiten ist der Drang groß, sie entschlüsseln zu wollen. Während ihre frühen Partituren auf einem strengen, nachvollziehbaren Notationssystem basierten, lassen sich die jetzigen Werke freier lesen. Es sind Arbeiten, die uns mit Bildern konfrontieren, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen. Sie changieren zwischen verschiedenen Polen: Vergangenheit und Gegenwart, Begrenzung und Freiheit, Kollektivität und Individualität, Dichte und Weite. Die Ausstellung NOW lädt den Betrachter ein, sich auf diese Zustände einzulassen, im Hier und Jetzt. Denn in jedem Moment – von jedem Standpunkt aus – wirken Voigts lebendig schillernde Bildoberflächen anders. Jorinde Voigt (geb. 1977 in Frankfurt a. M.) wurde mit dem Dahlmann Preis (2015) und dem Daniel & Florance Guerlain Contamporary Drawing Prize (2012) ausgezeichnet. Die Werke der in Berlin lebende Künstlerin sind in den Sammlungen des Centre Pompidou Paris oder des Museum of Modern Art New York vertreten. In der Kunsthalle Krems und im The Baker Museum Artis-Naples zeigt Jorinde Voigt derzeit ihre bisher umfassendsten Einzelausstellungen.
Lisa Sintermann
Lisa Sintermann
Über die Künstlerin
In ihren Arbeiten untersucht die in Berlin lebende Künstlerin Jorinde Voigt Wirklichkeit und Wahrnehmung, indem sie diese auf analytische Weise in Bezug auf Raum, Zeit, Geschwindigkeit und Form konstruiert. Voigt entwickelte dafür ihre eigene visuelle Sprache, um Phänomene wie Melodien oder Literatur in eine bildliche und ästhetische Dimension zu übersetzen. Die kognitiven Prozesse überträgt sie mit feinen Bleistiftlinien und Notationen in ihr künstlerisches Darstellungssystem. Ausgehend von der Zeichnung experimentiert sie immer wieder mit unterschiedlichen Techniken und Materialien. Das Spektrum zieht sich von farblichen Kompositionen mit diversen Zeichenmitteln über vergoldete Druckgrafiken bis hin zu Collagearbeiten mit ausgeschnittenen Silhouetten oder Federschichten. Trotz dieser kontinuierlichen Variation wird das übergeordnete Visualisierungssystem konstant beibehalten. 2014-2019 war Voigt Professorin für Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste in München. Aktuell ist sie Professorin an der HfBK Hamburg. Die Galerie Klüser repräsentiert die 1977 in Frankfurt am Main geborene Künstlerin seit 2009. Voigts Arbeiten wurden in einige renommierte internationale Sammlungen aufgenommen, wie zum Beispiel im Museum of Modern Art in New York, im Centre Georges Pompidou in Paris, in der Staatlichen Graphischen Sammlung in München, in der Pinakothek der Moderne in München, in der Sammlung Staatliche Museen zu Berlin – Kupferstichkabinett und im Kunsthaus Zürich.